Willkommen im Anthropoz�n!
Die 16. Istanbul Biennale

Ein gigantischer, ganze 3,4 Millionen Quadratkilometer gro�er Teppich aus Plastikm�ll mitten im Pazifischen Ozean – das ist der „Siebte Kontinent“. Wie der Klimawandel oder die massiven Eingriffe in die Landschaft durch Staud�mme oder das Umlenken von Fl�ssen wird dieser schwimmende M�llberg immer wieder als Beleg f�r das Anthropoz�n angef�hrt. F�r den Chemie-Nobelpreistr�ger Paul Crutzen sind die Ver�nderungen unseres Planeten durch den Einfluss des Menschen seit der Industrialisierung so gravierend, dass er 2002 diesen Begriff f�r das neue Erdzeitalter pr�gte. Um das Anthropoz�n, um die Beziehungen zwischen Mensch und Natur, aber auch Utopien und Dystopien geht es in der aktuellen, 16. Ausgabe der Istanbul BiennaleThe Seventh Continent lautet der programmatische Titel der von Nicolas Bourriaud kuratierten Schau. Mehr als 50 K�nstlerinnen und K�nstler aus 26 L�ndern hat der Mitbegr�nder des Pariser Palais de Tokyo dazu eingeladen. Darunter finden sich auch zahlreiche Positionen, die in der Sammlung Deutsche Bank vertreten sind: Haegue Yang, Glenn Ligon, Andrea Zittel oder der Fotograf und Filmemacher Armin Linke. Seine Videoarbeit Prospecting Ocean zeigt die Ausbeutung des Pazifischen Ozeans. W�hrend oben der M�ll schwimmt, wird unten am Meeresboden nach Rohstoffen gesucht, die das wirtschaftliche Wachstum weiter befeuern sollen. Auch das Feral Atlas Collective arbeitet dokumentarisch. Das internationale Netzwerk aus mehr als 100 K�nstlern und Naturwissenschaftlern macht sichtbar, was das Anthropoz�n bedeutet: Schlammvulkane, die als Folge von �lbohrungen entstanden sind, oder die exzessive Quallenvermehrung durch die Verseuchung der Meere mit D�nger. Das Kollektiv zeigt ein System kurz vor dem Kollaps und liefert der Fridays-for-Future-Bewegung zahlreiche Argumente f�r ihren Kampf f�r eine andere, �kologischere Art zu leben.

Doch die Biennale bietet auch Beitr�ge die Bourriauds Titel weniger w�rtlich interpretieren. So hat Simon Fujiwara, der 2019 f�r den Preis der Nationalgalerie nominiert war, eine k�hle, aseptische Welt entworfen, die von dem enervierenden Disneyland-Song It‘s a small world beschallt wird. F�r seine Installation ist der Brite vor einer Werkstatt f�r t�rkische Vergn�gungsparks f�ndig geworden. Er nahm die ausrangierten Plastikk�pfe von Disney- und Simpsons-Figuren und baute drumherum klitzekleine Modellwelten mit Gef�ngnis, Fitnessstudio und Beerdigungsinstitut. Aber nat�rlich auch mit einem Museum: Modellfig�rchen bestaunen Klimt und Koons. Soziale Kontrolle und Entertainment gehen in Fujiwaras erstaunlich realem Mikrokosmos eine beklemmende Allianz ein. Dagegen entwirft Charles Avery, dem in den Frankfurter Deutsche Bank-T�rmen eine ganze Etage gewidmet ist, mit Hilfe von gl�sernen Meerestieren, gro�formatigen Zeichnungen und Fundobjekten The Island, ein autarkes, surreales Refugium mitten im Ozean. Und Eva Koť�tkov�, die ebenfalls in der Sammlung vertreten ist, hat mit ihrer Machine for Restoring Empathy eine raumgreifende, h�hlenartige Struktur aus Stoff und Draht geschaffen – eine Art Schutzraum inklusive kollektiver N�hwerkstatt. Mit der f�r die tschechische K�nstlerin so typischen Absurdit�t kreist ihre Installation um die Frage nach einem weniger destruktiven, solidarischeren System.
 
Als Erfinder der „Relationalen �sthetik“, einer partizipativen, interaktiven Kunst, f�r die Namen wie Rirkrit Tiravanija, Carsten H�ller oder Pierre Huyghe stehen, hat Bourriaud auch Monster Chetwynd eingeladen, die letztes Jahr f�r die Tate Britain Winter Commission riesige bunte Nacktschnecken �ber die Fassade des Londoner Museums kriechen lie�. Ebenso verspielt kommt ihr Biennale-Beitrag daher, den sie gemeinsam mit lokalen Handwerkern f�r den Ma�ka Sanat Park, eine gr�ne Oase inmitten in der Millionenstadt, realisiert hat. Ihr Gorgon’s Playground entpuppt sich als Mischung aus Skulptur und Spielger�t. Es gleicht tats�chlich dem mythischen Gorgonenhaupt, nur dass die Schlangen, die sich aus diesem Kopf herauswinden, als Rutschen dienen.

In Bourriauds Seventh Continent geht es eher um die gro�en Themen als um die konkrete Situation in Istanbul oder der T�rkei. Eine Ausnahme bildet allerdings Ozan Atalans Video-Diptychon Monochrome. Sein Film zeigt, wie f�r den von Staatschef Erdogan vorangetriebenen Bau des neuen Istanbuler Gro�flughafens ein wichtiger Lebensraum f�r t�rkische Wasserb�ffel vernichtet wurde. Die Repressionen der Regierung, die gerade auch die Kulturszene betreffen, werden dagegen nicht thematisiert. So etwa die Tatsache, dass der Kunstm�zen, Unternehmer und Erdogan-Kritiker Osman Kavala seit zwei Jahren im Gef�ngnis sitzt. Auch die Vermittlung der Dringlichkeit, den Klimawandel anzugehen und den Planeten vor dem Kollaps zu retten, fehlte vielen Kritikern, denen die Biennale zu verstreut und thematisch zu wenig fokussiert erschien.

Trotzdem ist am Bosporus eine gewisse Aufbruchsstimmung zu sp�ren, auch aufgrund der Hoffnungen, die sich mit Istanbuls neuem B�rgermeister Ekrem İmamoğlu verbinden. Die Biennale und die kommerzielle Kunstmesse Contemporary Istanbul haben dieses Jahr ihre Termine zusammengelegt – und wurden beide demonstrativ von İmamoğlu besucht. Und dann er�ffnete die Industriellenfamilie Ko� mit dem Arter auch noch ein neues Museum f�r zeitgen�ssische Kunst. Hier steht unter anderem Ayşe Erkmens erste institutionelle Einzelausstellung in der T�rkei auf dem Programm. Whitish kombiniert �ltere Skulpturen der in Berlin und Istanbul lebenden K�nstlerin mit Arbeiten, die eigens f�r die Schau konzipiert wurden. Man betritt die Ausstellung durch fiepende Sicherheitsschleusen und landet in einem manchmal fast klaustrophobisch anmutenden Szenario, das man durchaus auch als Kommentar zur aktuellen Lage im Land verstehen kann.
A.D.

16. Istanbul Biennial
bis 10.11.19

Ayşe Erkmen. Whitish
Arter, Istanbul
bis 08.03.20