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Besser als Netflix

Lockdown, die Zweite: In ganz Europa ist Kultur augenblicklich gar nicht oder nur sehr eingeschr�nkt zu erleben. Dabei ist nat�rlich gerade w�hrend der Feiertage Zeit, sich zu vertiefen und auf Entdeckungsreise zu gehen. Deshalb empfiehlt die ArtMag-Redaktion zum Jahresende 2020 die besten Kunst-Links, mit denen sie im Pyjama ins Museum gehen, beim B�geln Experimental-Filme schauen und beim Spaziergang den angesagtesten Podcasts lauschen k�nnen.
2020 war die Julia Stoschek Collection vor allem wegen des drohenden Wegzugs ihrer Berliner Ausstellungshalle in den Medien. Dabei hat sie als eine der weltweit gr��ten Privatsammlungen f�r zeitbasierte Medienkunst in diesem Jahr ein ziemlich radikales Experiment begonnen. Nicht nur Bilder oder Trailer von Kunstvideos sind hier online zu sehen, sondern die gesamten Werke – und zwar dauerhaft und kostenlos. Das Ziel ist, langfristig die gesamte Sammlung online zug�nglich zu machen. Das gab es wirklich noch nie. Bisher sind bereits 179 Filme, Videos und Audio-Arbeiten von 52 K�nstler*innen abrufbar. Sie k�nnen also Ihre Weihnachtspl�tzchen zu den Werken von K�nstler*innen wie John Bock, Keren Cytter, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Cao Fei, Barbara Hammer oder Wolfgang Tillmans, von denen viele auch in der Sammlung Deutsche Bank vertreten sind, knabbern.

Schon einmal von Esther Bubley geh�rt? Nein? Kein Wunder. Nach wie vor sind Frauen in der Fotografie unterrepr�sentiert und viel zu wenig ausgestellt. Die 1921 geborene und in den 1990er-Jahren verstorbene Bubley war eine der ersten Fotografinnen in den USA, die Cover f�r das Life Magazine schoss, Reportagen �ber Reisen im Greyhound oder psychische Krankheit machte - und im goldenen Zeitalter der Dokumentarfotografie davon leben konnte. Die britische Organisation Hundred Heroines will Fotografinnen wie sie in das Bewusstsein einer breiten �ffentlichkeit r�cken. Alles fing 2018 mit der Wahl der 100 Heldinnen an - Frauen, die mit ihrer Arbeit Geschichte in der Gegenwartsfotografie geschrieben haben und neue Wege gegangen sind. Die Resonanz war so gro�, dass die Organisation seitdem j�hrlich Heldinnen der Fotografie auszeichnet, auf ihrer Website Werke und Biografien vorstellt und Online-Filmfestivals und -Ausstellungen veranstaltet. Eine �berf�llige Entdeckungsreise f�r jeden Fan der Fotokunst.  

The Family of Man hie� die Meilenstein-Ausstellung, die der amerikanische Fotograf Edward Steichen 1955 f�r das MoMA in New York zusammenstellte. Die Bilder von 273 Fotograf*innen aus 68 L�ndern, darunter K�nstler*innen wie Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Dorothea Lange oder August Sander, sollten eine Art Zustandsbeschreibung der Menschheit versuchen, wobei die Ausstellung ein Manifest f�r den Frieden und die fundamentale Gleichheit aller Menschen war. Jetzt pr�sentiert das Mudam mit der grandiosen Onlineausstellung Me, Family eine von diesem Projekt inspirierte Neufassung f�r das digitalisierte 21. Jahrhundert. Auch hier zeigen K�nstler*innen ihre Perspektive auf die Menschheit – aber unter den Vorzeichen von digitaler Vernetzung und �berwachung. Mit dabei sind Stars wie Doug Aitken, Cindy Sherman oder Jordan Wolfson. Die interaktive Plattform l�dt die Besucher*innen dazu ein, als Echtzeit-Avatar durch die Ausstellung zu wandern. Apropos Isolation, sie k�nnen auch Leute im virtuellen Museum kennenlernen!

Eine andere Museumsshow, die das digitale Format fantasievoll und unterhaltsam nutzt, ist We=Link: Sideways vom Chronus Art Center in Shanghai. Die global besetzte, von Zhang Ga kuratierte Gruppenausstellung erz�hlt die Geschichte der Netzkunst von den 1990er-Jahren bis heute. Das Design der Seite ist dabei sch�n retro im Neunziger-Jahre-Stil gehalten – mit gr�n leuchtenden Matrix-Codes, sperrigen Ordnersymbolen und Windows 95-Fenstern, die zu den Kunstwerken f�hren. Ein Riesenspa�!

Die Inspiration f�r Finite Rants, das aktuelle Online-Projekt der Mail�nder Fondazione Prada, lieferte nichts Geringeres als Chris Markers legend�rer Science-Fiction-Kurzfilm La Jet�e (1962), ein dystopischer Essay �ber Zeitreisen und den Dritten Weltkrieg, dessen Sequenzen ausschlie�lich aus Fotografien montiert wurden und der den Experimentalfilm neu definierte. Finite Rants folgt dieser essayistischen Tradition und verhandelt in Kurzfilmen Themen wie Terrorismus, Zensur und nicht-menschliche Lebensformen. Mit dabei sind etwa der deutsche Filmemacher und Autor Alexander Kluge und der amerikanische Regisseur und Schauspieler Brady Corbet. Definitiv nicht zum Abschalten und Entspannen, sondern zum Aufwachen gedacht.

Wer eher Entspannung und etwas Zuspruch sucht, dem sei das digitale Programm des New Museum ans Herz gelegt, das neue Ma�st�be setzt. F�r die Serie Bed Time Storys erz�hlen Prominente wie Tacita Dean oder Iggy Pop Geschichten gegen die Isolation, es gibt Diskussionen mit Judith Butler, K�nstler*innenfilme (unter anderem von Hiwa K) und nat�rlich virtuelle F�hrungen. Dieses innovative Programm der Superlative kann es an Unterhaltungswert locker mit Netflix aufnehmen.

Und f�r die Kleinen ein Ausflug ins Kunsthistorische Museum nach Wien: Dort wurde eigens eine App mit speziellen Kids- und Teen-Angeboten entwickelt, die auch den Eltern Spa� machen. Wenn die genug davon haben, Touren zu Themen wie Liebe oder Magie zu machen, in die Rolle eines Superhelden oder einer K�nigin zu schl�pfen oder Monster zu erschaffen, wartet auf sie eine Belohnung. F�r das Museum der Tr�ume haben Schriftsteller*innen Texte zu Gem�lden geschrieben. Gelesen werden sie von Stars der Wiener Theaterszene.

Noch nicht genug gespielt? Dann schicken Sie sich und ihre Familie ins Wunderland von Lewis Carroll. Das Victoria & Albert Museum feiert im kommenden Jahr Alice mitsamt dem Hutmacher und der Grinsekatze. Doch schon jetzt kann man der neugierigen Alice ins Hasenloch folgen - in Curious Alice, einem VR-Game, das speziell f�r das Museum entwickelt wurde. F�r 5 Euro auf viveport.com runterladen und schon spielt die liebe Familie mit Kranichen Kricket.

Wem das alles zu anstrengend ist, der kann sich einfach mal den TikTok-Acoount der Uffizien in Florenz angucken. Zum Piepen! Besonders sch�n: Die Renaissance-Version von Aretha Franklins I say a little prayer. Wer h�tte gedacht, dass ausgerechnet diese altehrw�rdige Institution in den Medien einmal zum „Klassenclown“ oder „In-Florenzer“ erkl�rt wird?

So, nun aber wieder zur�ck zum Ernst des Lebens, auch an den Feiertagen kann man etwas dazulernen! Unglaublich spannend ist Caf� Deutschland, eines der wohl ambitioniertesten Online-Museums-Angebote in Europa. Das Projekt des Frankfurter St�del Museums umfasst mehr als 70 Gespr�che, die mit prominenten K�nstler*innen, Galerist*innen, Kunsthistoriker*innen, Kritiker*innen und Sammler*innen zur deutschen Nachkriegskunst gef�hrt wurden. Von Georg Baselitz �ber Hans Haacke bis zu Gerhard Richter und Rudolf Zwirner sind alle dabei. Es erz�hlt die Generation der Kriegskinder, die h�ufig in den Tr�mmern der deutschen St�dte aufwuchsen, durch Armut und Verlust gepr�gt waren und auf der Suche nach geistiger Auseinandersetzung den Weg in die Kunst nahmen. Auch zum H�ren mit Gro�eltern, Eltern, Onkeln oder Tanten, die diese Zeit noch erlebt und sicher ihre eigenen Geschichten zu erz�hlen haben.

Lockdown-Zeit ist Podcast-Zeit, fast jedes Museum und jede Kunstzeitschrift hat einen. Und immer mehr Galerien ziehen gerade nach. Besonders erfolgreich dabei ist David Zwirner mit seinem hochgelobten Podcast Dialogues, der jetzt in die vierte Saison geht. Moderiert von Sohn Lucas Zwirner unterhalten sich immer zwei Pers�nlichkeiten aus der Kunstwelt. Vor kurzem waren etwa Sophia Coppola und Rainer Judd da, um sich �ber, na was wohl, die B�rde mit den ber�hmten V�tern zu unterhalten. Die G�steliste ist immer ikonisch, ob nun U-Comic-Gott Robert Crumb, Jeff Koons oder der New Yorker Designer Thom Browne vorbeischauen.

�hnlich starlastig geht es in dem Londoner Podcast Talk Art zu, der seit dem ersten Lockdown einen kometenhaften Aufstieg erlebt hat. Russell Tovey, Schauspieler und Sammler, und Robert Diament, ein Musiker der zum Galeristen wurde, unterhalten sich hier mit bildenden K�nstler*innen wie Sunil Gupta, Grayson Perry und Tracey Emin oder mit Stars der Popkultur (Lena Dunham, Michael Stipe oder Designer Paul Smith). Nichts wird bearbeitet oder gro� geschnitten. Alle tratschen und quatschen los, wie beim Kaffeeklatsch, zu dem man sonst nie eingeladen w�rde.  

Wer es etwas zielgerichteter, aber auch prominent mag, sollte mal bei A brush with…, dem neuen Podcast vom Art Newspaper reinh�ren. Hier verraten K�nstler*innen, welche B�cher, Bilder, Platten und kulturellen Erfahrungen ihre Arbeit gepr�gt haben. Zuletzt war Christina Quarles da, die gerade zu einer der gefragtesten Malerinnen an der US-West Coast aufsteigt.

Allen, die nicht nur Kunst, aber auch Kunst wollen, sei der geniale Podcast der London Review of Books nahegelegt, in dem es um alles M�gliche gehen kann: das Liebesleben der Giraffen, die Briefe von Edgar Degas, die neueste Biografie �ber Simone de Beauvoir. Very British und very bewusstseinserweiternd, genau wie der von der LRB mitbetriebene Podcast Talking Politics, in dem die Cambridge-Professoren David Runciman und Helen Thompson mit ihren G�sten alles zur Politik erkl�ren, von Thomas Hobbes' Leviathan bis zu Black Lives Matter und dem Brexit. Balsam f�r den Geist in post-faktischen Zeiten. Happy Holidays!